Der Pestizidatlas zeigt, wie Gifte in der Landwirtschaft die Umwelt belasten und das Artensterben beschleunigen.
Gegen die Natur. Mehr Pestizide = weniger Artenvielfalt
Jährlich werden vier Millionen Tonnen Pestizide weltweit versprüht. Spuren davon findet man fast immer: auf Obst und Gemüse, im Honig, in Bier, auf Spielplätzen, in der Luft und selbst im Urin. Überall lassen sich Pestizidwirkstoffe aus der Landwirtschaft nachweisen. Sie bleiben nicht immer dort, wo sie aufgebracht werden und finden so ihren Weg oft auch in Gewässer oder werden vom Wind weitergetragen. Noch bis 1000 Kilometer entfernt – auch in Naturschutzgebieten – lassen sich ihre Rückstände finden.
Global betrachtet werden immer größere Mengen hochgiftiger Pestizide in der Landwirtschaft eingesetzt. Die Folgen für die Biodiversität und für die Gesundheit von Pflanzen, Tieren und Menschen sind gravierend.
Die Herausgeber des Pestizidatlas 2022 – die Heinrich-Böll-Stiftung, der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und das Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN Germany) – fordern in ihrer gemeinsamen Pressemitteilung von der Bundesregierung, den Einsatz von Pestiziden konsequent zu reduzieren. Das Ausbringen besonders toxischer Pestizide muss untersagt werden und bereits in der EU verbotene Pestizide dürfen nicht länger exportiert werden, wie die Organisationen bei der Vorstellung des „Pestizidatlas 2022“ Mitte Januar betonten. Vor allem Landwirte im globalen Süden setzen verstärkt Pestizide ein, selbst hochgefährliche Wirkstoffe, die auf europäischen Äckern längst verboten sind.
Jährlich erkranken 385 Millionen Menschen an Pestizidvergiftungen, 11.000 sterben jedes Jahr daran. Vor allem Menschen im globalen Süden sind betroffen, die ohne Schutzausrüstung und Schulung mit den gefährlichen Substanzen hantieren. Über Lebensmittelimporte aus dem außereuropäischen Ausland landen diese Gifte dann wieder auf unseren Tellern.
Vier einflussreiche Konzerne teilen sich 70% Prozent des überaus lukrativen Marktes und befeuern damit globale Ungerechtigkeit. Neben Syngenta und Corveta gehören die deutschen Unternehmen Bayer und BASF zu den großen Profiteuren in diesem Milliardengeschäft.
Die gesammelten Daten und Fakten über Gifte in der Landwirtschaft zeigen, dass die Menge der weltweit eingesetzten Pestizide zwischen 1990 und 2017 um 80 Prozent gestiegen ist. In Südamerika lässt sich sogar ein Anstieg von über 143 % seit 1999 feststellen, der auf den Anbau von Soja als billiges Futtermittel für die Tiermast zurückzuführen ist. Mehr als 5 kg Pestizide pro Hektar Land werden dort ausgebracht.
„Auch in Europa sprühen wir zu viel“, sagt Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Der Apfelanbau in Deutschland bedient fast zu 70 Prozent die heimische Nachfrage und erreicht damit einen großen Selbstversorgungsgrad. Die schlechte Nachricht für Apfel-Fans: Das Lieblingsobst der Deutschen ist mit Abstand die Anbaukultur, bei der Pestizide am häufigsten zum Einsatz kommen. 28- 30 mal pro Saison werden Äpfel im konventionellen Anbau gespritzt, mehr noch als Weinreben und Hopfen, die auf Platz zwei und drei landen.
In Deutschland hat sich die eingesetzte Menge mit 2,8 Kilogramm Pestizidwirkstoff pro Hektar Nutzfläche insgesamt in den letzten Jahrzehnten nur minimal verringert. Der Bericht stützt sich unter anderem auf Zahlen des Bundesumweltamtes. In Europa lässt sich eine leichte Steigerung verzeichnen.
Der Trend zu mehr Pestizideinträgen könnte sich insgesamt mit der Verschärfung des Klimawandels weiter fortsetzen. Forscher der Seattle University erwarten pro Grad Erderwärmung einen Rückgang der Ernteerträge von Reis, Mais und Weizen um zehn bis 25 Prozent. Durch die Trockenheit werden Pflanzen automatisch anfälliger für Krankheiten und Schädlingsbefall.
Agrartechnikunternehmen versprechen diese Probleme mit digitalen Technologien zu lösen, die Namen tragen wie Smart Farming oder Precision-Farming. Der Pestizidatlas macht klar, dass die technologische Transformation der Landwirtschaft zwar verheißungsvoll für große Konzerne sei, um deren Marktmacht zu zementieren, jedoch nicht zur erhofften Entlastung für die Biodiversität führen könne.
„Der Verlust der Artenvielfalt weltweit, aber auch in Deutschland ist dramatisch und kann nur gestoppt werden, wenn der Einsatz von Ackergiften deutlich reduziert wird“, sagte BUND-Vorsitzender Olaf Bandt bei Vorstellung des Pestizid Atlasses. Man erwarte gesetzgeberisches Handeln von der neuen Bundesregierung. Dabei müsse die Gesamtmenge der Pestizide um 50 Prozent gesenkt und besonders gefährliche Pestizide verboten werden. „Es müssen innerhalb der jetzigen Legislaturperiode konkrete Maßnahmen umgesetzt werden, um die Erfolge der Pestizidreduktion zu kontrollieren. Entscheidend dabei ist, dass die landwirtschaftlichen Betriebe dabei unterstützt werden, mit weniger Pestiziden wirtschaftlich tragfähig zu arbeiten. Weniger Pestizide und mehr biologische Vielfalt auf dem Acker soll sich für alle Betriebe lohnen.“
Vor allem junge Menschen fordern die Politik zum Handeln auf. 70 Prozent sprechen sich laut Pestizid Atlas in einer repräsentativen Umfrage für eine deutliche Reduktion des Pestizideinsatzes in Deutschland aus. Sie unterstützen die Entscheidung der EU zur Halbierung des Pestizideinsatzes bis 2030. Mehr als 60 Prozent der Befragten sind sogar dafür die Nutzung von Pestiziden insgesamt bis 2035 zu verbieten, wenn Bäuerinnen und Bauern beim Umstieg auf eine umweltfreundliche Landwirtschaft unterstützt werden. Fast 80 Prozent der Befragten befürwortet eine stärkere finanzielle Unterstützung der Landwirtinnen und Landwirte, wenn weniger Pestizide eingesetzt werden. Das ist ein klarer Auftrag an die neue Bundesregierung für ein nachhaltiges Umsteuern in der Agrarpolitik: Pestizidwende einleiten – mit der Natur statt gegen sie. (mk)
Der Pestizid Atlas als PDF (auch zum Download)
Bereits öfter waren Pestizide und das Einknicken der Politik vor Konzerninteressen Thema auf unserer Webseite:
Im Oktober 2021 berichteten wir von der skandalösen „Notfallzulassung“ von Neonicotinoiden beim Zuckerrübenanbau.
Wie in der EU verbotene Pestizide auch von deutschen Firmen weltweit verkauft werden und teilweise wieder auf unserem Teller landen, war bereits Thema unseres Beitrags im November 2020.