Anti-TTIP-Demo in Kassel im Oktober 2015 (Foto BI Chattengau/MG)
Können wir echt so wenig tun?
Ein Meinungsbeitrag von Andreas Grede
Thilo Bode, einer der renommiertesten Umweltschützer Deutschlands, zog sich kürzlich als Geschäftsführer von Foodwatch International zurück. Bereits von 1989 bis 1995 war er Geschäftsführer der deutschen Sektion von Greenpeace, 2002 dann Gründer von Foodwatch Deutschland.
Als Soziologe und Volkswirt veröffentlichte er einige Bücher, deren Titel aneinandergereiht beinahe die ganze Problematik widerspiegeln, die uns die industrialisierte Landwirtschaft und vor allem die globalen Lebensmittelkonzerne beschert haben. Eine Auswahl: Abgespeist: Wie wir beim Essen betrogen werden und was wir dagegen tun können (2007), Die Essensfälscher: Was uns die Lebensmittelkonzerne auf die Teller lügen (2010), Die Freihandelslüge: Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet (2015), Die Diktatur der Konzerne: Wie globale Unternehmen uns schaden und die Demokratie zerstören (2018).
In einem bemerkenswerten Interview für den Spiegel* zieht er die ernüchternde Bilanz „Der Verbraucher hat keine Macht“. Dies begründet er – leider – schlüssig mit dem Versagen der Politik respektive derem Kotau vor der „knallharten Lobby der Lebensmittelindustrie“. Sechzehn Jahre ist das BMEL (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft) in CDU/CSU Hand gewesen, zunächst geleitet von Horst Seehofer, dann fünf Jahre lang von Ilse Aigner geführt. Aigner nutzte damals schon den polemischen Spruch, mit der NGOs gerne diffamiert werden. Foodwatch betreibe nur Panikmache, um möglichst viele Spendengelder einzustreichen.
Tatsächlich zeigte Bode gnadenlos auf, wie ihre Partei (und wie zu befürchten ist zukünftig wohl auch die FDP) und die Industrie das Bild vom mündigen und freien Bürger zeichnete, um ihre sagenhaften Profite zum Beispiel durch zuckerhaltiges Junkfood zu sichern. Motto „Der Verbraucher hat die Freiheit zu entscheiden was er isst“. Bis zuletzt hat sich Landwirtschaftsminsterin Julia Klöckner lächerlich gemacht mit ihren Appellen zur freiwilligen Selbstverpflichtung (Nestle) der Konzerne.
Rückblickend merkt Bode bezüglich seiner Organisation selbstkritisch an, Foodwatch hätte noch „viel nachdrücklicher darauf hinweisen müssen, dass Konsumenten Märkte mit dem Einkaufskorb nicht verändern können“. Eine Aussage, die vielen UnterstützerInnen der Bio-Landwirtschaft nicht wirklich gefallen wird. Bode fordert dagegen, dass der Staat die VerbraucherInnen schützen müsse und auch, um Klimaziele zu erreichen, Ausgleichsmechanismen für europäische Bauern schaffen müsse, die vor Billigimporten schütze.
Ich selbst kenne das Thema aus zahlreichen öffentlichen und privaten Diskussionen oder aus Gesprächen am AGA-Infostand und werde nicht müde zu betonen, welche perfide Strategie der industriellen Lobby und ihren oft willfährigen Politikern hinter dem „Argument“ steht, ausschließlich Angebot und Nachfrage würden die landwirtschaftliche Produktion bestimmen. So wird die „Schuld“ quasi den Konsumenten zugeschoben, die miesen Billigfraß verlangten. Doch stimmt das?
Beispiel Massentierhaltung. Wir brauchen in Deutschland eine Halbierung der Tierzahlen, sagt zurecht unter anderem Greenpeace. Warum gibt es diese grausamen Haltungsbedingungen in einem vergleichsweise kleinem Land wie Deutschland? Wie konnte es soweit kommen, dass Tiere wie tote Werkstücke hochgezüchtet werden, um viel Masse für wenig Geld zu liefern? Sind die Fleischesser schuld, die nicht genug kriegen können? Eine einfache Antwort darauf lautet: Nur bedingt leider, denn 50% des deutschen Schweinefleischs werden ins Ausland verkauft.
Auch am Beispiel der gescheiterten „Initiative“ zur Reduzierung ungesunder, überzuckerter Kindernahrung zeigt sich sehr schön: Die Industrie hat die Politik fest im Griff. Das wird auch dadurch möglich, dass ein undurchsichtiger Interessenfilz herrscht. Der deutsche Bauernpräsident Joachim Rukwied, der seit 2017 auch den Zusammenschluss der europäischen Bauernverbände anführt, kam laut Recherchen des ARD Magazins Monitor im Jahr 2020 auf Nebeneinkünfte von 167.000 Euro.** Angesichts anderer Summen wie den „Provisionen“ bei den jüngeren Maskendeals könnte man mit der Schulter zucken, doch es geht schlicht um die Frage, ob Rukwied noch die Interessen der kleineren und mittleren Höfe vertritt, die sich in der Landwirtschaft abrackern, oder die von Großunternehmen wie der Südzucker AG oder dem Agrarhandelskonzern BayWa, in dessen Aufsichtsräten er sitzt. Nicht umsonst wurde Rukwied 2017 vom NABU der Dinosaurier des Jahres verliehen.
Doch zurück zu den Interessenverflechtungen: Südzucker, der größte Zuckerproduzent der Welt und einer der größten Nahrungsmittelkonzerne Deutschlands, hat ein Interesse daran, möglichst viel Zucker unters Volk zu bringen. Nicht jeder Verbraucher ist Ernährungsexperte, und wer sich nur einen Spielfilm im Privatfernsehen inklusive aller Werbeunterbrechungen antut, dürfte zumindest verwirrt sein, was gute und gesunde Lebensmittel angeht.
Nun soll das Zuckerwerbeverbot für die Zielgruppe der unter 14-Jährigen kommen. Bleibt abzuwarten, ob das ähnlich „konsequent“ durchgeführt wird wie einst das Verbot für Tabakwerbung und ob es zum Beispiel auch für Internetplattformen gilt.
Aktuell hat sich der neue Landwirtschaftsminister Cem Özdemir in eine unangenehme Lage gebracht, als er – ausgerechnet! – in der Bild am Sonntag forderte, es dürfe keine Ramschpreise für Lebensmittel mehr geben. Gut gedacht, aber leider nicht bis zum Ende. Thilo Bode sagte (Wochen zuvor) schon in seinem Interview: „Wenn wir in der Klima- und Verbraucherpolitik etwas erreichen wollen, müssen wir der sozialen Frage mehr Gewicht beimessen.“ Kurz gesagt: Ja, die Lebensmittelpreise müssen den Wert widerspiegeln, der ihnen angemessen ist. Landwirte brauchen faire Preise. Nein, Millionen Haushalte könnten sich das zur Zeit nicht leisten. Was tun also? Wie wäre es mit etwas mehr Steuergerechtigkeit? Mit weniger prekären Arbeitsverhältnissen? Dann sollte möglich sein, auch ärmere Menschen in Deutschland angemessen zu versorgen.
Klar ist, die Politik braucht weiterhin den Druck aus der Zivilgesellschaft, den Protest von Fridays for Future und auf allen Ebenen Kontrolle und Nachfragen. Zu groß ist die Gefahr, dass sich die Grünen sonst im Berliner Dschungel der Macht verirren. Martin Häusling, der landwirtschaftspolitische Sprecher der europäischen Grünen in Brüssel, hat auch hier in Nordhessen oft genug berichtet, welchen Druck die Konzernlobbyisten auf Abgeordnete und Behörden und damit auf Gesetzgebung und Verordnungen ausüben. Auf unserer Webseite haben wir oft genug davon berichtet (zuletzt in dem Beitrag Reform der Mutlosen). Wir können also die vielen (über-)lebenswichtigen Themen nicht einfach nur alle vier Jahre an ein paar PolitikerInnen delegieren.
Aber sehen wir nicht nur schwarz zu Beginn des neuen Jahres. Auch wenn es vielen zu langsam geht:
„Dran bleiben“ ist sicher ein gutes Motto. Veränderungen sind immer ein Prozess. Der braucht Energie und stetigen Antrieb, auch wenn man manchmal denkt, es dauert alles zu lange.
*Der Spiegel Nr. 48 vom 27.11.2021 S. 70 ff
**Zum Thema Nebeneinkünfte Joachim Rukwied zitiert tagesschau.de die Sendung Monitor: https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/praesidium-bauernverband-101.htm