Schweinesystem

Die deutsche Fleischindustrie steuert auf ihre nächste Krise zu. Die Afrikanische Schweinepest wurde bei einem verendeten Wildschwein in Brandenburg nahe der polnischen Grenze nachgewiesen. Und während Bauernpräsident Rukwied bereits im Klagemodus („staatliche Hilfen“) ist und gleichzeitig fordert, dass Wildschweine am besten komplett abgeschossen werden, hinterfragt u.a. der Deutsche Tierschutzbund das System Fleisch.

Auf seiner Webseite kritisiert der Tierschutzbund die verstärkte Jagd auf Wildschweine scharf und stellt fest: „Kern des Problems sind nicht die Wildschweine. Die Hauptursachen für die Ausbreitung der Seuche ist der Mensch als Überträger, die transportbedingte Krankheitsverbreitung und die industrielle Schweinezucht. Wo Tausende Schweine in riesigen Hallen zusammengepfercht werden, können sich Krankheiten schnell ausbreiten. Auf diesen Hauptursachen sollte der Fokus aller Maßnahmen liegen – und nicht auf Massen-Abschuss.“ https://www.tierschutzbund.de/information/hintergrund/artenschutz/afrikanische-schweinepest/

Wir sind also wieder mal beim System. Und ganz gleich, ob es zum Anlieferungsstau kommt bei Tönnies, weil Schlachthöfe sich zu Corona-Hotspots entwickelten oder jetzt Importverbote drohen: Warum fördert der Bauernverband und die von ihm dominierte Agrarpolitik weiterhin die Überproduktion von Fleisch?

Gerade die „kleinen“ Landwirte und Schweinemäster sind nicht gut beraten, ihrem selbsternannten Sprachrohr LsV (Land schafft Verbindung) zu folgen. Deren Sprecher Dirk Andresen ist wohl eher ein Großagrarier. Seine Anlage zur Sauenhaltung wurde  2008 auf 1.250 Tiere erweitert und Direktzahlungen aus der EU erhielt Andresen im Jahr 2018 für 1.325 Hektar. Da bekommt sein Aufruf Mitte Juli, die Landwirte sollten den „Medien und Aktivisten“ erklären, dass landwirtschaftliche Existenzen auf dem Spiel stünden, schon ein Geschmäckle. (Quelle agrarheute, 17.7.2020).

Deutschland exportiert Fleisch, und zwar in erheblichem Maße. Seit dem Jahr 2000 wurde die Exportmenge um das Vierfache erhöht, es sind heute über 2,3 Millionen Tonnen Fleisch, die ins Ausland gehen, das ist etwa die Häfte der gesamten deutschen Schlachtmenge. 50% des in Deutschland „produzierten“ Schweinefleischs geht ins Ausland, am meisten nach China. Gerne wird von der Fleischindustrie behauptet, es würden ja nur Teile dorthin verkauft, die hier keiner essen würde, also Köpfe, Pfoten oder Ohren.

Auch das ist nicht wahr: nur etwa ein Drittel der Exporte bestehen aus diesen „Schlachtabfällen“. Bei „Fokus Fleisch – eine Initiative der deutsche Fleischwirtschaft“ liest sich das dann so: „Die deutsche Fleischwirtschaft produziert Fleisch und Fleischwaren in erster Linie für den Heimatmarkt. Es wird in Deutschland kein Tier gezielt nur für den Export geschlachtet. Der überwiegende Teil des in Deutschland erzeugten und verarbeiteten Fleischs wird auch in Deutschland verzehrt. Um die Vielzahl der unterschiedlichen Teilstücke – vom Kopf bis zum Schwanz – als Lebensmittel und somit nachhaltig verwenden zu können, ist der internationale Handel unabdingbar.“ (gesehen am 23.9.2020 https://www.fokus-fleisch.de/export)

Die deutsche Fleischwirtschaft hat ein Imageproblem –  und das jeden Tag mehr.  Am 23. September berichtet die Tagesschau über eine Großrazzia. Es geht um illegale Leiharbeit. Bundesarbeitsminister Heil findet deutliche Worte:

Schon seit Jahren hatte der katholische Priester Peter Kossen die sklavenartigen Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen angeprangert. Da fällt es auch eingefleischten Neoliberalen schwer, solche Zustände noch mit Phrasen des freien Marktes zu verkleistern.

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Die Pestkrise zeigt, wie abhängig die gesamte Industrie mittlerweile vom Weltmarkt ist. Vor allem dort entscheidet sich, wie es den deutschen Bauern geht – die Wünsche der Verbraucher sind zweitrangig.“ (Spiegel 39/2020)

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Jeder Mediziner weiß: Die qualvolle Enge in den deutschen Massentierställen erhöht den Infektionsdruck. Die viel zu hohe Tierdichte in Deutschland verursacht zudem hohe Umwelt- und Klimaschäden. Diese Exportzahlen zeigen leider auch, dass es mit dem Verzicht aufs Schnitzel noch nicht getan ist. Wir brauchen eine strukturelle Änderung des Systems Fleisch. Nun werden mit Sicherheit wieder die Erzeuger, z.B. auch die Schweinemastbetriebe in Nordhessen, nach vorne geschickt, um ihre existenziellen Probleme in die Öffentlichkeit zu tragen. Deren Sorgen sind zunächst nachvollziehbar, nur geht es eben so nicht immer weiter. Wenn in Deutschland 50% mehr Schweinefleisch produziert wird als im eigenen Land verbraucht wird, ist das eine klare Grenzüberschreitung.

Überschritten wird auch die Grenze der wirtschaftlichen Vernunft. In einem relativ kleinen Land wie Deutschland mit begrenzten Flächen kann es nicht sein, dass mit industrieller Massentierhaltung auf Teufel komm raus der Weltmarkt bearbeitet wird. Das grenzüberschreitende System der Agrarindustrie, vom (latein-)amerikanischen Futtermittel bis zu den Absatzmärkten in Asien und Afrika ist schon im Ansatz falsch. Daran verdienen nur die Agrarindustrie, die multinationalen Nahrungsmittelkonzerne und die Finanzmärkte, die an der Warenterminbörse mit Lebensmitteln spekulieren.

Die Tiere leiden unerträglich, das industrielle Essen macht die Menschen krank. Und was macht die Verbraucherschutzministerin? Frau Klöckner tauscht sich fröhlich mit Nestle & Co. aus, ist stolz auf ihre „Erfolge“ für gesündere Lebensmittel dank freiwilliger Selbstverpflichtung und zeigt nebenbei, wessen Interessen sie tatsächlich vertritt. Die heute-show hat es im Juni mit vielen Hintergrundinformationen sehr gut auf den Punkt gebracht.

„Bei Verbrauchern hat das Image von Fleisch als wertvollem Lebensmittel durch die Vorfälle [gemeint ist u.a. Tönnies] arg gelitten“, stellt die welt-online fest. Nett formuliert. Allerdings muss nochmals betont werden: Der Verbraucher ist wichtig, noch wichtiger jedoch sogar als Wähler. Denn letztlich entscheidet die Politik, was auf unsere Teller kommt. Und welche Grenzen im Namen des Profits anonymer Aktionäre überschritten werden und welche nicht. Frau Klöckner und die industrielle Agrarlobby wälzen die gesamte Verantwortung gerne auf die Konsumenten ab. Diese Lüge wird gerne auf allen Ebenen verwendet – ein wunderbarer Vorwand, nichts zu tun.

Deshalb ist Agrarpolitik auch von unten wichtig. Nicht allein mit emotionaler Empörung über Missstände, sondern mit gerade auch wirtschaftlichem und umweltpolitischem Sachverstand.